Innensicht – Ein Poetry Slam über weibliches autistisches Erleben
Frauen mit Autismus bleiben oft unsichtbar. Während das Autismus-Spektrum bei Männern häufiger und früher diagnostiziert wird, erhalten viele autistische Frauen erst im Erwachsenenalter ihre Diagnose – wenn überhaupt. Die Gründe sind vielfältig: Masking und Camouflaging, das bewusste oder unbewusste Verbergen autistischer Züge, gehören für Frauen im Autismus-Spektrum oft zum Alltag.
Wie erleben Frauen Autismus wirklich? Jenseits von Statistiken und klinischen Beschreibungen gibt dieser Poetry Slam einen authentischen Einblick in die autistische Wahrnehmung einer Frau. Die Autorin, selbst im Autismus-Spektrum, findet kraftvolle Worte für ihre Innensicht – für die sensorische Überempfindlichkeit, das Leben zwischen den Welten, die täglichen Herausforderungen und besonderen Stärken.
Dieser Erfahrungsbericht macht sichtbar, was oft verborgen bleibt: die spezifischen Erfahrungen autistischer Frauen. Er richtet sich an Betroffene, die sich wiederfinden möchten, an Angehörige, die verstehen wollen, und an Fachpersonen, die über die Symptome hinaus die gelebte Realität von ASS bei Frauen kennenlernen möchten.
Der folgende Text entstand aus dem Bedürfnis, dem weiblichen Autismus eine Stimme zu geben – ungefiltert, poetisch und berührend ehrlich.
© [2025] [Lia Martin]
Autismus?
Nie habe ich so richtig dazu gepasst
Und schon immer habe ich es gehasst
Konnte ich doch die anderen nicht verstehen
Keinen Sinn in ihrem Verhalten sehen
Das Reden über Wetter, Kleidung und Co.
Machte sie anscheinend froh
Ich bin hingegen lieber still
Wenn ich nichts Sinnvolles sagen will
Besonders, wenn viele Menschen anwesend sind
Verschwinde ich lieber heimlich geschwind
Oder höre zu und beobachte alle detailliert
Denn schließlich habe ich bisher nicht kapiert
Wie man sich auf Partys richtig verhält
Was für die Anwesenden als passendes Benehmen zählt
Lieber bin ich allein zuhause
Gönne meinen Sinnen eine Pause
Von all dem Trubel um mich herum
Fühle ich mich doch immer so dumm
Habe ich mal wieder die Wahrheit gesagt
Obwohl sie eigentlich keiner hören mag
Inzwischen habe ich gelernt, dass es durchaus sinnvoll ist
Wenn du nicht ständig ehrlich bist
Bei Geschenken wird sich stets bedankt
Weil man sonst im Situationen gelangt
In denen mein Gegenüber sauer wird…
Manchmal erkenne ich nicht, wenn die Konversation diese Richtung nimmt
Spüre nur stark, dass etwas nicht stimmt
Deshalb frage ich oft direkt nach
Bevor ich einen Fehler mach
Vor allem Online fällt mir das schwer
Das Gefühl fehlt dort doch sehr
Schnell wird dann mit den Haaren gespielt
Und so Beruhigung anvisiert
Draußen darf ich das jedoch nicht mehr machen
Bringt es die Leute schnell zum Lachen
Oder die Lehrerin steht drohend vor mir da
Und macht mir ziemlich deutlich klar
„Wenn du nicht aufhörst hole ich die Schere“
So überkommt mich eine große Schwere
Habe doch gar nichts falsches getan
Warum prangert man mich also so an?
Auch auf der Klassenfahrt der 4ten Klasse, quälte es mich echt
War sie einfach nur ungerecht
Ich hatte lediglich darauf hingewiesen
Aber musste anschließed den Koffer wieder schließen
Und frühzeitig nach Hause fahren…
So dachte ich auch in den letzten Jahren
Immer wieder, dass ich spinn
Ist es doch oft nur mein Gerechtigkeitssinn
Der mein flexibles Handeln zu lähmen scheint
Das ist wohl was ihr alle meint
Wenn ihr sagt, ich solle mal locker bleiben…
Doch das kann ich eben nicht
Sodass innerlich in mir etwas zerbricht
Und ich mich selbst nicht mehr leiden kann
Vielleicht lerne ich noch irgendwann…
Was ist jeweils falsch gelaufen
Es ist als würden meine Gedanken saufen
Betrunken von der Nachanalyse jeder Situation
Treibt mich genau diese Motivation
Hinein in kreisende Gedanken
Bringt meine Welt weiter ins Wanken
Und lässt mich selbstverletzende Dinge tun
Damit diese Gedanken endlich mal ruhn
Oder ich schmeiße mich in den Sport
Denn hier spüre ich sofort
Was Bewegungen angeht, bin ich wirklich gut
Brauche nur endlich mal den Mut
Ein gutes Gefühl auch zuzulassen
Bekomme es nie richtig zu fassen
Stattdessen lerne ich auswendig, was zum jeweiligen Gefühl gehört
Welche Körperhaltung passt und welche stört
Wo im Körper das Gefühl entsteht
Ohne, dass man es richtig versteht
Doch strengen mich soziale Situationen so noch mehr an
Weil ich mich niemals fallen lassen kann…
Essen auf dem Teller habe ich lieber getrennt
In Bus, Auto oder Zug habe ich noch niemals gepennt
In der Wohnung sollte es immer ordentlich sein
Doch sind meine Kater auch noch so klein
Haben sie mich gelehrt, das entspannter zu sehen
Und auch wenn starke Winde wehen
Muss ich mich nicht immer entgegenstehen
Sondern kann mich auch zu anderen gesellen
Zwar fällt es mir schwer ihnen in die Augen zu schauen
Aber das ist noch immer besser als das Hauen
Oder die Zigaretten auf meiner Haut
Weit sich eine falsche Freundschaft aufgebaut
Der ich nicht richtig konnte entkommen
Fühlte mich meist wie benommen
Weil ich dazu gehören wollte
Also machte ich, was ich sollte
Solange es nicht gegen meine Moralvorstellungen ging
Obwohl ich mir dadurch Ärger einfing
Noch immer sind Berührungen für mich schwer
Will ich es auch noch so sehr
Um Nähe und Kontakt zu spüren
Anstatt in der Vergangenheit herumzurühren
Was der Auslöser könnte gewesen sein
War ich bei meiner Geburt auch noch so klein
Erstmal war Atmen gar nicht möglich
Doch handelten die Ärzte wirklich löblich
Und erlösten mich von meiner lila Farbe
Ganz ohne eine bleibende Narbe
Auffällig war ich dann auch als kleines Kind
Lernte aber ganz geschwind
Wie ich mich verhalten soll
Fand ich es auch nicht so toll:
Jeden sollst du freundlich grüßen
Und für deine schlechte Handschrift büßen
Denkt doch bitte mal positiv
Und sei nicht immer so naiv
Du musst nicht jedem Glauben schenken
Vergiss außerdem nicht an deine Rolle zu denken
Die je nach Situation eine andere ist
Weißt du überhaupt, wer du wirklich bist?
Blende die Geräusche doch einfach aus
Mach wegen des blinkenden Lichtes kein Drama draus
Kein Wunder, dass es mit meinem Selbstwert nicht so klappen will
Nur unter Wasser ist es endlich mal still
Hier kann niemand mit mir reden
Hier muss ich nicht gehen auf den vorgegebenen Wegen
Stattdessen beruhigt mich der Druck im Wasser
Je tiefer ich tauche, desto krasser
Schon oft wollte ich immer weiter nach untern tauchen
Weil mich die Menschen nicht wirklich brauchen
Denn was leiste ich für diese Gesellschaft schon
Das ich alle Geburtstage weiß, ist da nur ein Hohn
Stattdessen falle ich auf durch meine extremen Gefühle
Komplett emotional oder unbeteiligte Kühle
Oft wird einfach stumm an die Wand gestarrt
Immerhin bleibt mir so der Smalltalk erspart
Weil ohnehin niemand mit mir reden mag
Wenn ich meine Gedanken jedoch in Reimform sag
Hört doch so mancher meinen kreativen Texten zu
Manchmal lässt mir ein Gedanke keine Ruh
Sodass er raussprudelt hart und direkt
Habe ich mal wieder die sozialen Normen vercheckt
Dann fühlt sich mein Gegenüber angegriffen
Doch habe ich bis heute nicht begriffen
Was das Problem dabei war
Meine Aussage war lediglich ehrlich und klar…
Schon deshalb mache ich das Meiste lieber allein
Außerdem ist es durchaus gemein
Wurden die Regeln vorher nicht klar definiert
Oder hat man meine Lösung etwa nicht kapiert
Haben sie denn nicht gesehen, was ich gesehen habe?
Ist das Erkennen von Details nun Fluch oder Gabe?
Jedes Nummernschild auf der Autobahn muss ich lesen
Das ist schon immer so gewesen
Umgebungsgeräusche werden durch Musik ausgeblendet
Was häufig folglich damit endet
Das ein Lied – nur einmal gehört
Fortwährend meine Gedanken stört
Kündigen andere ganz unverbindlich etwas an
Knabbere ich recht lange daran
So nehme ich die Aussagen als Versprechen ernst
Dann wird gesagt: es ist Zeit, dass du lernst
Die Menschen haben nicht für alles Zeit
Aber wie habt ihr es dann gemeint
Wenn ihr sagt, dass ihr das machen werdet?
Zum Glück gibt es noch etwas, das mich erdet
Eine Decke mit 8kg Gewicht
Lege ich über mich, wie eine Schicht
Die den Druck des Wassers simuliert
Und mein Oxytocin aktiviert
Was ich über Berührungen nicht erreichen kann
Doch ich hoffe, ich ändere mich irgendwann
Sodass eine Beziehung in den Bereich der Möglichkeiten tritt
Mich zusammenhält wie der Kitt
Den alle anderen zu kennen scheinen
Ich möchte darüber nicht mehr weinen
Sondern akzeptieren, dass ich eben anders bin
Und irgendwie bekomme ich mein Leben ja auch hin!
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© [2025] [Lia Martin]
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